Das Käthchen von Heilbronn

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Ein unmittelbar historisches Vorbild für das "Käthchen von Heilbronn" gibt es leider nicht. Handlung und Personen des Stückes sind wohl tatsächlich eine Erfindung des Dichters (so Heinrich von Kleist über sein Stück in einem Brief von 1811). Auch eine Volkssage, wie sie einige Literaturwissenschaftler als Grundlage oder zumindest Anstoß für das Schauspiel vermuten, ließ sich nicht finden. Etwaige "Käthchensagen" sind erst nach der Veröffentlichung des Stückes bzw. seiner Uraufführung (1810) entstanden.

Entsprechendes gilt auch für das Heilbronner "Käthchenhaus": erst nach dem Erfolg des "historischen Ritterschauspieles" begann man, ein besonders imposantes und mittelalterlich aussehendes Haus am Marktplatz als das des Käthchens zu bezeichnen, wohl auch, um Besucher Heilbronns, die nach dem Käthchen fragten, nicht zu enttäuschen - im 19. Jahrhundert waren "romantische" Reisen entlang des malerischen Neckartales sehr beliebt. Ein 1859 erschienener Reiseführer beispielsweise merkte bereits kritisch an, dass das Käthchen von Heilbronn "keinen historischen Grund und Boden" habe und "lediglich ein Gebilde der Phantasie des Dichters" sei.

Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass einige, das Schauspiel wesentlich bestimmende Elemente (die Anhänglichkeit des Käthchens, für die es selbst keinen Grund anzugeben vermag; der doppelte Traum an Silvester; die wie eine heilmagnetische Befragung angelegte Holunderstrauchszene) auf den sogenannten Mesmerismus (Heilmagnetismus) verweisen und damit eine Verbindung mit unserer Stadt herstellen. Vielleicht ist es dieser Mesmerismus-Aspekt, der Heinrich von Kleist bewogen hat, seine weibliche Hauptfigur aus Heilbronn kommen zu lassen.

 

Die Reichsstadt Heilbronn war in den 1790er Jahren vorübergehend zu einem Zentrum der heilmagnetischen Behandlungsmethode geworden. Der seit 1778 hier praktizierende Arzt Dr. Eberhard Gmelin (1751-1809) hatte den von Franz Anton Mesmer begründeten Heilmagnetismus wissenschaftlich-empirisch weiterentwickelt und seine Vorgehensweise, seine Erkenntnisse und Erklärungsmodelle anhand zahlreicher Krankengeschichten in mehreren Büchern veröffentlicht. Sein Ansehen als "einer der besten Magnetiseurs seiner Zeit" - so Gotthilf Heinrich Schubert in einem Vortrag 1808 in Dresden, bei dem wohl auch Heinrich von Kleist anwesend war - reichte bis weit ins 19. Jahrhundert. Man darf vermuten, dass Kleist, der sich für die Phänomene des Mesmerismus/Magnetismus sehr interessierte, Name und Werk des Heilbronner Arztes kannte.

Vor allem zwei der von Gmelin publizierten Krankengeschichten (1789 bzw. 1791) waren so beeindruckend, dass sich Fachwelt und interessierte Laien auch im 19. Jahrhundert mit ihnen beschäftigten, so auch Gotthilf Heinrich Schubert in seinem bereits erwähnten Vortrag. Die eine der beiden Krankengeschichten - es ist die einer dreizehnjährigen Heilbronner Kaufmannstochter - liest sich in ihrer Quintessenz wie die wissenschaftliche Erklärung für das (zunächst) unverständliche Verhalten des Käthchens und die Lösung des Rätsels in der Holunderstrauchszene. So hat vermutlich diese Fallgeschichte - wenn nicht direkt (dafür fehlt der endgültige Beweis), dann doch stellvertretend für die gesamte Leistung des Heilbronner Arztes Gmelin auf dem Gebiet der Erforschung des Unbewussten - zur Idee und Gestaltung von Kleists Schauspiel beigetragen.

In der Heilbronner Kaufmannstochter jedoch - sie hieß Charlotte Elisabethe Zobel, 1788 war sie von Gmelin behandelt worden, der ein Jahr später ihre Krankengeschichte veröffentlichte; sie starb unverheiratet bei einer 1806 in Heilbronn grassierenden Typhus-Epidemie - darf man nur sehr bedingt ein Heilbronner Vorbild für das Käthchen sehen, zumal neuere Aspekte in der Diskussion auf eine Stuttgarter Bürgerstochter verweisen.