Eberhard Gmelin und der Fall Caroline H.

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Das Phänomen einer doppelten Persönlichkeit wurde aus medizinischer Sicht erstmals 1791 beschrieben. Der Autor dieser Schrift, Eberhard Gmelin, kam 1751, also vor 250 Jahren, in Tübingen zur Welt. Von 1778 bis zu seinem Tod lebte und wirkte er als Stadtarzt in Heilbronn. Er gehörte zu den ersten, die sich wissenschaftlich mit dem Mesmerismus oder – wie er damals genannt wurde – tierischen (animalischen) Magnetismus befassten. Seine von 1787 bis 1793 veröffentlichten Kranken- und Untersuchungsberichte fanden deshalb nicht nur bei den Zeitgenossen Beachtung, auch Naturforscher und Mediziner der Romantik holten sie wieder hervor, Dichter und Schriftsteller wie Heinrich von Kleist, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Justinus Kerner ließen sich von ihnen inspirieren.

Eberhard Gmelins Ruf als seriöser Magnetiseur führte dazu, dass man auch außerhalb Heilbronns um seinen Rat nachfragte. So kam er zu seiner (aus heutiger Sicht) wichtigsten Patientin Caroline H.: Die junge Stuttgarterin litt unter einer "periodischen Katalepsie", während der sie eine "veränderte Persönlichkeit" annahm. Ihr Onkel, ein württembergischer Hofrat, der in Heilbronn lebte, stellte den Kontakt zwischen der besorgten Familie und Eberhard Gmelin her, und am 2. November 1789 reisten die beiden gemeinsam in die württembergische Residenzstadt. Zwei Jahre später veröffentlichte Gmelin die Fallgeschichte im ersten Band seiner "Materialien für die Anthropologie", ohne den vollen Namen seiner Patientin zu nennen; wir fanden dennoch genügend Hinweise, um sie identifizieren zu können.

 

Gmelin und der Fall Caroline H.

Im Herbst 1789 war Caroline H. an einem rheumatischen Fieber erkrankt. Anschließend geriet sie täglich in einen Zustand, während dem sie zu einer Französin wurde, die vor den Pariser Revolutionsunruhen nach Stuttgart geflüchtet war. Sie glaubte, dass sie im Gasthaus "Römischer Kaiser" wohne und war nicht in der Lage, die ihr normalerweise vertrauten Personen zu erkennen. Während der Anfälle sprach sie perfekt französisch, sie beweinte ihr unglückliches Schicksal als Emigrantin und klagte über große Schmerzen, von denen sie hoffte, dass ein Arzt sie davon erlösen könne. War der Anfall vorüber, konnte sie sich an nichts erinnern; aber natürlich war das, was man ihr erzählte, so beängstigend, dass sie mit dem Versuch einer "magnetischen Cur" einverstanden war.

Der tierische Magnetismus galt als Außenseitermethode, die von den zeitgenössischen "Schulmedizinern" und Psychologen misstrauisch und kritisch beäugt wurde. Der Stuttgarter Leibarzt Johann Georg Hopfengärtner jedenfalls, der zusammen mit seinem Medizin studierenden Sohn Friedrich Philipp den Behandlungen beiwohnte, war von dem schnellen, nachhaltigen Erfolg des Heilbronner Arztes beeindruckt: Carolines "französische Zustände" wurden kürzer und die Schmerzen nahmen ab, nachdem sie von Gmelin wiederholt in einen "magnetisierten" Zustand versetzt worden war. Als dieser nach zwei Tagen wieder abreisen musste, führte Hopfengärtner senior die Behandlung noch einige Tage fort, während sein Sohn für Gmelin einen genauen Bericht verfasste. Caroline H. erholte sich zusehends "und nun lebt sie seit Jahr und Tag vollkommen gesund, ohne die mindeste Spur einer Verirrung".

 

In seinen Anmerkungen zu diesem Fall versuchte Gmelin Klarheit darüber zu gewinnen, wie es geschehen konnte, dass Carolines "Persönlichkeit zu erlöschen" schien und an ihre Stelle "ein neues Ich und eine neue Persönlichkeit etablirt" wurde. Caroline "war ein höchst empfindsames Mädchen", und im Sommer 1789 hörte und las man in Stuttgart viel über die Französische Revolution und man sah die vielen Flüchtlinge (von denen tatsächlich die meisten im Römischen Kaiser logierten). Sie "sezte sich oft und anhaltend in die Stelle dieser unglücklichen Franzosen ... und so mag sie Monate lang sich mit diesen traurigen Ideen beschäftiget haben, um ihre eigenen tief verwurzelten Leiden zu vergessen". Vor allem vermisste sie ihren "einzig geliebten" Verlobten, der sich damals für unbestimmte Zeit im Ausland aufhielt.

Auf Grund seiner Beobachtungen suchte Gmelin auch nach Antworten für jene grundsätzlichen Fragen, die man sich im ausgehenden 18. Jahrhundert – der Epoche der "Empfindsamkeit" und der "Erfahrungs-Seelenkunde" – über "die Mechanik der Seele" stellte: wann und wie sich das "Ich" und das Bewusstsein über das jeweilige Ich (das "SelbstBewusstsein") bildet; was "Persönlichkeit" ist und wie sie entsteht; welchen Einfluss der "Wille" hat; wie sich das "empfindende Ich" zum "anhaftenden Körper" verhält und wie sich physische Veränderungen auf das "Ich und die mit ihm anklebende Persönlichkeit" auswirken.

Gmelins "Wegebahnen ..., um das Prinzip der Kräfte der menschlichen Natur" zu erkennen, ist heute wegen der damals gebräuchlichen Terminologie nur noch schwer zu verstehen. Seine Schlussfolgerungen im Fall Caroline H. waren jedoch grundlegend: er erkannte, dass sich bei ihr eine Bewusstseinsschicht gebildet hatte, zu der sie im wachen, normalen Zustand keinen Zugang fand. In einer Krise war diese zweite (wir würden heute sagen unbewusste) Persönlichkeitsschicht vorübergehend als "neues Ich" zu ihrem "ursprünglichen Ich und Persönlichkeit" hinzugetreten, ohne dass das erste Ich getilgt wurde. Dies war ein erster Schritt hin zur Entdeckung des Unbewussten, und Eberhard Gmelin zählt daher zu den Pionieren der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse.

 

Caroline H. und Kleists Käthchen

Wer aber war nun Eberhard Gmelins junge Stuttgarter Patientin, deren Fall nicht nur für die Medizingeschichte von Interesse ist, sondern die vor einigen Jahren von Steven R. Huff als weiteres mögliches Vorbild für Heinrich von Kleists "Käthchen von Heilbronn" ins Gespräch gebracht wurde? Folgt man der von Gonthier-Louis Fink auf dem 1. Heilbronner Kleist-Kolloquium geäußerten These, dass die magnetisch-mesmeristischen Elemente des Schauspiels vor allem dazu dienen, das Wechselspiel zwischen Bewusstsein und Unbewusstem möglich zu machen, und versteht man das Käthchen, dessen Verhalten und Charakter sich ja unerklärlich verändern, als vorübergehend doppelte Persönlichkeit, deren Sein und Handeln ganz vom Unbewussten ( = Silvestertraum) bestimmt wird, dann sind Ähnlichkeiten zu dieser Fallgeschichte Gmelins nicht von der Hand zu weisen.

 

Caroline Heigelin

Caroline Johanne Christiane Heigelin kam am 26. Januar 1768 in Stuttgart zur Welt. Ihre Eltern waren der Goldschmied und spätere Hofjuwelier Johann Eberhard Heigelin und Christiane Friederike, geb. Stritter. Am 25. Januar 1791 heiratete sie den zwölf Jahre älteren Hofbildhauer Philipp Jakob Scheffauer, der zusammen mit seinem Freund und späteren Konkurrenten Johann Heinrich Dannecker zu den bedeutenden Vertretern des Schwäbischen Klassizismus zählt. Beide, Scheffauer und der etwas jüngere Dannecker, waren Zöglinge der (Hohen) Carlsschule gewesen. Dank eines herzoglichen Reisestipendiums hatten sie zusammen einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Paris und Rom verbracht und waren anschließend (1789 bzw. 1790) von Herzog Carl Eugen zu Professoren an der Hohen Carlsschule ernannt worden.

Es muss eine glückliche Zeit für das junge Ehepaar Scheffauer gewesen sein. Die württembergische Residenzstadt war unter Carl Eugen zu einem Zentrum der Schönen Künste geworden, und die zumeist jüngeren "Intellektuellen", die Baumeister, Maler, Bildhauer und Musiker pflegten geselligen Kontakt miteinander. Carolines Porträt, das von dem Malerfreund Hetsch stammt, spiegelt etwas von der Unbeschwertheit jener Jahre kurz vor der Jahrhundertwende wider. Und als Friedrich Schiller (auch er hatte ja die Carlsschule besucht) zusammen mit seiner Ehefrau Charlotte im Herbst 1793 für mehr als ein halbes Jahr in die alte Heimat zurückkehrte, brachte dies eine zusätzliche Bereicherung und einen weiteren Ansporn für Stuttgarts Kulturleben.

 

Mit dem Tod des Herzogs änderte sich dies alles und bei Familie Scheffauer – mittlerweile waren vier Kinderchen da – kehrten Existenzsorgen ein. Die Carlsschule wurde geschlossen (1794) und Scheffauer verlor seine Professorenstelle. Carl Eugens Nachfolger, die Herzöge Ludwig Eugen und Friedrich Eugen, mussten sparsamer wirtschaften und hatten für Kunst sowieso weniger übrig. Private Auftraggeber für ein bildhauerisches (= teures) Kunstwerk waren dünn gesät, und da gab es ja auch noch in unmittelbarer Nähe den "Konkurrenten" Johann Heinrich Dannecker, der neben seinem herausragenden Talent in seinem Schwager Rapp einen finanzstarken Förderer und in Johann Wolfgang von Goethe einen prominenten Bewunderer besaß.

Carl Lang und das Ehepaar Scheffauer

In jenen Jahren war es für Scheffauer schon ein Lichtblick, dass der Heilbronner Senator Carl Lang für sein Schwäbisches Industrie-Comptoir zwei seiner Basreliefs erwarb und mit der Herausgabe einer großformatigen Festschrift über das "Denkmal der Gattenzärtlichkeit und der Volksliebe", das Herzogin Sophia Dorothea bei Scheffauer in Auftrag gegeben hatte, zum Bekanntwerden des bescheiden-zurückhaltenden Künstlers beitrug.

Vielleicht gab es neben der geschäftlichen auch eine persönlich-freundschaftliche Beziehung zwischen den Ehepaaren Scheffauer und Lang (ein Gedicht Carl Langs legt dies nahe). Vielleicht ist das Gespräch dann auch einmal auf Eberhard Gmelin gekommen, der nicht nur Caroline, sondern auch die beiden Schwestern Carl Langs erfolgreich magnetisch behandelt hatte. Vielleicht, so könnten wir weiter spekulieren, war man durch ein Gespräch über den verehrten Friedrich Schiller auf das Thema gekommen. Denn bevor sich das Ehepaar Schiller anlässlich seiner "Schwabenreise" im September 1793 in Ludwigburg und anschließend in Stuttgart niederließ, hatte es für vier Wochen in Heilbronn Quartier bezogen. Hier konnten sie Herzog Carl Eugen aus dem Weg gehen und hier wollten sie vor allem Eberhard Gmelin konsultieren.

 

Der seit 1791 chronisch kranke Friedrich Schiller war "auf Gmelins Bekanntschaft und magnetische Geschicklichkeit ... sehr neugierig" und für die hochschwangere Charlotte hoffte er sehr auf den Heilbronner Arzt. Jedoch, trotz der "sehr merkwürdige[n] Gespräche, die Schiller in Heilbronn mit dem berühmten Arzt D. Gmelin über thierischen Magnetismus führte" (so Caroline von Wolzogen 1830), konnte sich der Dichter (und ehemalige Regimentsarzt) für diese Heilmethode nicht erwärmen, es blieb ihm "zu viel Neigung fürs Wunderbare" (an Körner am 27. August 1793). Er veranlasste jedoch, dass Eberhard Gmelin im Frühjahr 1794 von der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena als Ehrenmitglied aufgenommen wurde.

Mit dem Regierungsantritt Friedrichs II. (1797) besserte sich die finanzielle Lage bei Scheffauers allmählich, denn der Herzog (ab 1803 Kurfürst, seit 1806 König) schätzte Scheffauers besonderes Können auf dem Gebiet der Reliefkunst und gab ihm das Ausschmücken einiger seiner Privaträume in den Schlösser Stuttgart, Ludwigsburg und Monrepos in Auftrag. Der Markgraf von Baden ließ sich und seine Ehefrau von Scheffauer porträtieren und der Kronprinz von Bayern bestellte eine Büste des Astronomen Keppler.

Philipp Jakob Scheffauer näherte sich dem Höhepunkt seiner Laufbahn, als Caroline im Januar 1808 an der Schwindsucht starb. Sie war nur 40 Jahre alt geworden. Zehn Monate später starb auch Philipp Jakob, ebenfalls an einem Lungenleiden. Das Grab des Ehepaares auf dem Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof hat ihr langjähriger Künstlerfreund Antonio Isopi gestaltet.

Wenig später, am 3. März 1809 starb in Heilbronn nach längerem Leiden der Stadtarzt Eberhard Gmelin im Alter von 58 Jahren. Sein Grabstein, den die Witwe bei Johann Heinrich Dannecker in Stuttgart in Auftrag gegeben hatte, gehört zu den wenigen Zeugnissen klassizistischer Kunst in Heilbronn Er steht heute als Leihgabe in der ständigen stadtgeschichtlichen Ausstellung unseres Stadtarchivs.

 

Mehr über Eberhard Gmelin findet sich in dem 1994 erschienenen Buch von Gerhard Bauer "Eberhard Gmelin (1751-1809). Sein Leben und sein Werk" (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 4).