Aus der Heimat an die Front
Neckar Echo 12. August 1914
Transkription
Abreisende Krieger
Unter ungeheurer Beteiligung der Einwohnerschaft hat gestern wieder ein Landwehrbataillon unsere Stadt verlassen. Die Mannschaften waren mit Blumen überschüttet worden, die Gewehre, Helmspitzen, Koppeln, alles trug Blumensträuße. So fremd dieser Anblick war, ein so unvergessliches und farbenfrohes Bild bot die Truppe bei dem Marsch durch die Kaiserstraße. Die Zurückbleibenden schluckten tapfer die Tränen, die hervorbrechen wollten beim Gedanken an das Wie und Wo des Wiedersehens, und so manches junge Weib, das mit marschierte, um das Weh der Trennung noch eine Stunde hinauszuschieben, bezwang sich und stand tapfer auf dem Bahnhofsplatz, bis die letzten Kommandos erklangen. Dann, als der Zug die Halle unter tosenden Hurra-Rufen verlassen hatte, dann ging's nach Hause und in den stillen vier Wänden brauchte man sich ja keine Gewalt mehr anzutun …
Es war ein tiefgreifendes Bild, wie so mancher Landwehrmann unmittelbar vor dem Passieren der Bahnhofsperre sein Kriegsbrot noch in Empfang nahm, um sich dann umzudrehen und es seinem starr geradeaus blickenden Weib in die zitternd widerstrebenden Hände zu drücken. Bis zum letzten Augenblick denken diese Braven an Weib und Kind und ihre Taten im Feld geschehen nur in Gedanken an die Lieben zu Haus. Keine Szenen gab‘s, ein tiefernster Blick, ein Händedruck und fort war jeder… Dann brummte der Zug über die Brücke und hundertfach klang‘s heraus: "… wir alle wollen Hüter sein …"! Und an die Wagen waren schon wieder Scherz und Spott geschrieben.
Wer wohl die Treffer in diesem entsetzlichen Lottospiel um zerschossene Leiber ziehen mag? Es ist grässlich, sich an dieser Gedankenkette entlangzutasten. Der Soldat und der Bürger versuchen, alle diese Empfindungen durch Kampfesfreude und hohe Begeisterung zu bannen. Aber sie kommen immer wieder, die Gedanken an das schneidende Weh, das blind und unausweichlich über so viele kommen muss. Tief sitzt eines alten Mütterchens Wunsch in unserem Herzen: Bub, komm gesund wieder, ich weiß, dass ich zu einem seligen End nichts anderes brauch…"
(Stadtarchiv Heilbronn L008-50)
Erinnerungen des 18-jährigen Kriegsfreiwilligen Wilhelm Model
Wilhelm Model beschreibt die Eindrücke während eines Truppentransports von der Ostfront an die Westfront, die ihn durch Württemberg führt:
Nächtliche Fahrt
"Neu-Ulm! Verpflegungsstation! - Also heraus aus dem Eisenbahnwagen! Schneeflocken treiben vor den großen Bogenlampen. Wir treten an und bringen ein dreimaliges Hoch auf unseren König aus, der uns begrüßen lässt.
Es dauert ziemlich lange, bis der ersehnte Kaffee nebst Brot und Käse endlich da ist. Ein Posten treibt die Zivilbewohner von der Einzäunung weg. Wir gehen wieder in die warmen Wagen. Die Fenster auf. Sie sollen draußen hören, dass wir immer noch die Lustigen von früher sind. Die Handharmonika heraus, damit es in die stille Nacht hinaus töne: "Drum, Mädchen, weine nicht und sei nicht traurig. Unter diesen Klängen setzt sich der Zug in Bewegung. Dumpf dröhnt die Donaubrücke zum zweiten Mal auf dieser Fahrt.
[…]
Münster, dir gilt unser Gruß! Wann läuten deine Friedensglocken? Hurra! Und immer wieder Hurra! zum Fenster hinaus. Manch eine Mutter steht am Fenster und winkt. Sie denken ja alle, wenn er im Zug ist, dann freut er sich. Aber der Zug rast durch die Lande.
[…]
Langsam fährt der Zug die Steige hinunter. Hier und da winkt ein Landsturmposten. Geislingen liegt unter uns. Ein Kamerad ruft: Holdrio! Zum Fenster hinaus, aber vergebens – am elterlichen Haus zeigt sich kein Licht. Es ist auch schon spät. Droben steht der Ödenturm als Zeuge alter und neuer Kriege. Lied um Lied wird angestimmt, damit wir uns keinen Rührungen hingeben: "Rosenstock, Holderblüt, wenn i mein Dirndl seh …" Aber wir sehn sie halt alle nicht, die liegen brav im Bett. Inzwischen sausen wir durch Göppingen, überall ohne zu halten. "Auf de schwäbische Eisebahna, gibt es viele Haltstationa"… Bloß heut net. Trotzdem wird weitergesungen.
[…]
Auch in Ludwigsburg halten wir nicht. Dort stehen viele Leute am Bahnhof. Sie haben’s scheint’s erfahren. Erst in Bietigheim hält der Zug. Wir fassen Grog – was Gutes bei der Kälte.
In Heilbronn schlägt’s vom Kiliansturm ein Uhr. – Stiller Wächter mit der Fahne droben, dich sehen die Franzosen nie wieder! "Heimat, o Heimat, bald muss ich dich verlassen …", schallt’s über des Neckars Kräuselwellen.
[…]
Wir sind müde und träumen weiter von der Heimat, die wir einst in lichteren Tagen wiedersehen."
(Stadtarchiv Heilbronn E002-76)
Arbeitsanregungen
- Beschreibt die Radierung von Heinrich Seufferheld "Deutsche Renaissance" und versucht, den Bildtitel zu erklären.
- Abreisende Krieger: Geht von folgender Situation aus: Ein Familienangehöriger (Mutter, Vater, Frau, Freundin) eines Soldaten oder einer der ausziehenden Soldaten verfasst am Abend dieses Tages einen Tagebucheintrag. Verfasse diesen Eintrag.
- Nächtliche Fahrt: Beschreibe, was in den Soldaten, die durch ihre Heimat fahren, vorgeht.
Oder
- Verfasst einen Brief eines dieser Soldaten an seine Familie zu Hause, in dem über die "nächtliche Fahrt" berichtet wird.