Arbeitsblätter


 

AB 1: Entstehung, Funktion und Organisation des KZ-Außenlagers Heilbronn-Neckargartach

Hohe deutsche Kriegsverluste und zunehmende Rekrutierungen führten im Jahre 1944 zu einem enormen Arbeitskräftemangel, der durch Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten und Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsindustrie ausgeglichen werden sollte. So überzog bald ein Netz von Lagern und Arbeitskommandos Deutschland. Sie fungierten als „Verleihbetriebe für Privat- und Staatsindustrie.“ (Pingel, Falk: Häftlinge unter der SS-Herrschaft. Hamburg 1978, S. 127)

Zentrale Schaltstellen waren das Ministerium für Rüstungs- und Kriegsproduktion unter Albert Speer, dessen Bauamt (OT = Organisation Todt) und das Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS, dem ab 1942 die Konzentrationslager unterstellt waren.

Für die Standortwahl des KZ-Außenlagers Heilbronn-Neckargartach war vor allem der alliierte Vormarsch in Frankreich ab Mitte 1944 ausschlaggebend. Das Großlager Natzweiler-Struthof im Elsass musste Schritt für Schritt aufgelöst und Tausende von Häftlingen ins Reich verbracht werden. Gleichzeitig sollten Rüstungsbetriebe unter die Erde verlegt werden, damit sie von den zunehmenden Bombenangriffen sicher waren. Dafür boten sich die Salzstollen zwischen Heilbronn und Bad Friedrichshall an, weshalb Heilbronn-Neckargartach und Bad Friedrichshall-Kochendorf als Standorte für Außenlager des KZ Natzweiler eingerichtet wurden.

Im August 1944 wurden an der Böllinger Straße am Ortsende in Richtung Bad Wimpfen bei einem Sportplatz Baracken und einige Wirtschaftsgebäude errichtet: das SS-"Arbeitslager" „Steinbock“ Heilbronn-Neckargartach. Im September 1944 trafen etwa 500 Häftlinge ein, vorwiegend aus dem Nebenlager des KZ Natzweiler Markirch/Elsass (Sainte-Marie-aux-Mines). Mehrere Hundert Häftlinge aus Thil/Longwy und aus Deutsch-Oth (Audun-Le-Tiche) in Lothringen sowie aus dem elsässischen Wesserling-Urbis folgten.

Das Lager erstreckte sich auf einer Fläche von ca. 150 auf 100 Metern. Es war mit zwei- bis dreifachem Stacheldraht umgeben und hatte vier Wachtürme. Im KZ Heilbronn-Neckargartach befanden sich neben „kriminellen“ Häftlingen auch politische Häftlinge, Homosexuelle, aus religiösen Gründen Verfolgte und Juden. Die Häftlinge waren in mehreren Baracken untergebracht, dazu gab es eine Latrine, eine Scheune, die als Leichenhaus genutzt wurde, eine Waschbaracke, eine Krankenbaracke, eine Feldküche und eine Verwaltungsbaracke. Die Häftlingsunterkünfte waren ca. 20 Meter lang und mit Dachpappe gedeckt. Sie beherbergten je über 200 Häftlinge in dreistöckigen Schlafstellen. Außerhalb des Lagers standen die Wohngebäude des Lagerleiters und der SS-Wachmannschaften.

Um die Jahreswende 1944/45 bestand die Wachmannschaft aus 80 SS-Angehörigen und 20 Luftwaffensoldaten. Viele der SS-Leute waren noch sehr jung und kamen aus Rumänien, wo sie als „Volksdeutsche“ zu SS verpflichtet worden waren.

Die Lagerleitung hatte SS-Oberscharführer Johannes Gillberg. Er war 1944 Mitte dreißig. Er stammte aus der Gegend von Duisburg und war von Beruf Schreiner. Von einigen Augenzeugen wird er als „im Grunde nicht bösartig“ beschrieben. Das eigentlich verbotene Zustecken von Nahrungsmitteln auf den Arbeitsstellen habe er stillschweigend geduldet. Doch es gibt auch Erinnerungen von Augenzeugen, dass er für den Tod von mindestens zwei Häftlingen verantwortlich gewesen sei.

Die Häftlinge wurden zunächst zum Ausbau der Salzstollen zu Rüstungsbetrieben eingesetzt. Dazu mussten neue Zugänge gegraben werden. Besonders nach dem Luftangriff auf Heilbronn kamen die Trümmerbeseitigung, das Entschärfen von Blindgängern und die Leichenbergung hinzu. Für bestimmte Arbeiten waren Neckargartacher Einwohner verpflichtet. Der örtliche BDM (Bund Deutscher Mädel) musste für die SS Strümpfe stopfen. Neckargartacher Frauen arbeiteten in der SS-Küche. Für die Gefangenen war ein polnischer Häftlingsarzt tätig.

Schwer erkrankte Häftlinge wurden in das Krankenlager Vaihingen/Enz gebracht (eigentlich „Sterbelager“, von der SS als „Erholungslager“ bezeichnet). Die SS-Wachmannschaften stützten sich bei ihrer Aufsicht auf Häftlinge, den Lagerältesten, Lagerschreiber, Block- und Stubenältesten. Lagerältester war der aus Heidelberg stammende Buchhändler Karl G., Jahrgang 1897. Ein Stubenältester war der „Bibelforscher“ (Zeuge Jehovas) Vally Greska. Die Auswahl der ca. 20 „Kapos“ geschah nach den Kriterien: Deutschkenntnisse, Durchsetzungs- und Organisationsfähigkeit sowie Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der SS. (nach: Risel, Heinz: KZ in Heilbronn. Das „SS Arbeitslager Steinbock“ in Neckargartach. Nordheim 1987)

 

Arbeitsanregungen AB 1

  • Beschreibt die Funktion der Konzentrationslager für den NS-Staat.
  • Beschreibt die Organisation innerhalb der Konzentrationslager

 


 

AB 2: Die Häftlinge

Aus dem Verzeichnis der auf dem SS-Arbeitslager-Friedhof Heilbronn-Neckargartach beerdigten Häftlinge:
Von September 1944 bis März 1945 waren von den standesamtlich gemeldeten Toten 67 Polen, 48 Italiener, 35 Russen, 27 Jugoslawen, 6 Franzosen und 8 Reichsdeutsche. Die Mehrzahl aller Häftlinge waren Arbeiter, Handwerker und Landwirte, doch waren unter den Häftlingen auch Lehrer, Ärzte, Professoren und ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter. Das Alter der registrierten Toten lag zwischen 19 und 53 Jahren. (Risel, KZ in Heilbronn, S. 55f.)

Aussage des Wachmanns W.:
Die Häftlinge waren meist arbeitsfähige junge Leute. (Zentralstelle Ludwigsburg, Akte Neckargartach, S. 154. Zitiert nach Risel, KZ in Heilbronn, S. 56)

Aussage des Häftlings Maurice Basiez:
Wir wurden um 4.30 Uhr morgens herausgescheucht zum Appell, mit nackten Füßen in Holzpantoffeln, runter in die Minen zum Arbeiten, mittags brachte ein LKW Essen, außer bei Fliegeralarm: 125 g Brot, 10 g Margarine, ein kleines Stück Käse; abends gab es Rübensuppe.

Aussage eines Häftlings (Lagerältester Karl G.):
Da ich 1938 die Arbeit am Westwall verweigerte, wurde ich am 18.6.1938 in Haft genommen. Am 2. Juli 1938 kam ich nach Dachau in das dortige Konzentrationslager. Am 15.3.1944 kam ich mit einem Transport in das Außenlager Neckarelz (Schulhaus), wo ich als Lagerältester eingesetzt wurde. Durch den damaligen Hauptsturmführer Hofmann wurde ich strafweise nach Natzweiler abgeschoben, weil ich bei der Neckarelzer Bevölkerung wahrheitsgemäß über das Verhalten des Hofmann in Dachau (ich kannte ihn seit 1938) gesprochen hatte. Es gelang mir mit Hilfe von Kameraden, in das Außenlager Deutsch-Oth in Frankreich zu gelangen. Kurze Zeit danach wurden wir im Zuge der Evakuierung dieses Lagers in das Lager Kochendorf bei Heilbronn verbracht und einige Tage später, meines Wissens im August 1944, in das Außenlager Neckargartach überstellt. Als ich dort mit etwa 1200 weiteren Gefangenen eintraf, war das Lager unbewohnt, es fehlte vor allem an hygienischen Einrichtungen. Ich wurde zunächst als Lagerschreiber und später noch als Lagerältester eingeteilt. (Zentralstelle Ludwigsburg, Akte Neckargartach, S. 10. Zitiert nach Risel, KZ in Heilbronn, S. 16f.)

 

Arbeitsanregungen AB 2

  • Fertige eine Skizze an, die veranschaulicht, woher die KZ-Häftlinge kamen.
  • Errechne, wie viel Prozent der als „arbeitsfähige junge Leute“ bezeichneten Häftlinge in der Zeit von September 1944 bis März 1945 starben. Gehe dabei von einer Belegschaft von 1200 Häftlingen aus.
  • Wie ist die hohe Todesrate zu erklären?

 

AB 3: Welchen Gewinn brachte ein Häftling?

Rechnung des SS-Obergruppenführers Pohl (nach: Eugen Kogon: Der SS-Staat. München 2002, S. 361)


Tägliche Vermietung zwischen RM 6,00 und RM 8,00 = RM 6,00
abzüglich
Ernährung                     RM 0,60
Bekleidungsamortisation RM 0,10
Summe          =             RM 0,70

also                                                                          RM 5,30
demnach bei durchschnittlicher dreivierteljährlicher Lebensdauer
RM 5,30 mal 270 Tage                                            RM 1431,00

Dieser Gewinn erhöht sich durch rationelle Verwendung
der Häftlingsleiche nach 1. Zahngold, 2. Kleidern,
3. hinterlassene Wertsachen und 4. hinterlassenes Geld.
Also durchschnittlicher Nettogewinn je Leiche RM 200,00

Die Beträge verringern sich je Leiche um die Verbrennungskosten
von durchschnittlich RM 2,00.

Der Gesamtgewinn des Häftlingsumsatzes beträgt
in durchschnittlich 9 Monaten je Kopf wenigstens        RM 1629,00

Sondereinnahmen mancher KZ durch Knochen- und Aschenverwertung
sind nicht berücksichtigt.


Antwort der Firma Koch & Mayer, Bauunternehmung Heilbronn auf die Anfrage des Gewerkschaftsbunds Württemberg-Baden vom 14.4.1947 über die Beschäftigung von KZ-Häftlingen (Stadtarchiv Heilbronn ZS-2008)

Frage:
Hatte die Firma die Möglichkeit, die Beschäftigung von KZ-Häftlingen abzulehnen? Wer war die verantwortliche Stelle, die die Firma gezwungen hat, KZ-Häftlinge zu beschäftigen?

Antwort:
Unsere Firma hat im März 1944 von der Firma Ernst Heinkel AG, Stuttgart-Zuffenhausen den Auftrag erhalten, Hochbauten und Betonarbeiten im Steinsalzbergwerk Kochendorf auszuführen. Beschäftigt waren ab Baubeginn bis Oktober 1944 unsere eigene normale Belegschaft. Im November 1944 übernahm die OT die Oberleitung auch unserer Baustelle. Die Oberbauleitung Weinsberg veranlasste unsere Bauleitung (Heinkelwerke), die Arbeiten zu erweitern und KZ-Häftlinge zu beschäftigen. Dieser Anordnung konnten wir uns nicht widersetzen, ohne Gefahr zu laufen, als Saboteure zur Verantwortung gezogen zu werden. Nach Angaben von Heinkel und OT handelte es sich bei den Arbeiten um eines der dringlichsten Bauvorhaben.

 

Arbeitsanregungen AB 3

  • Errechnet den überschlagenen Gewinn bei einem KZ Arbeitslager mit 1200 Häftlingen.
  • Diskutiert darüber, was die Nationalsozialisten unter „Vernichtung durch Arbeit“ verstanden.
  • Welche Rolle spielte die OT bei der Häftlingsbeschäftigung? Die „Organisation Todt“ (OT) war das Bauamt des Ministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion unter Albert Speer, seit September 1943 Hitler direkt unterstellt.

 

AB 4: Was wusste die Zivilbevölkerung?

Kurt A.:
Ein Augenzeuge berichtet, was sich auf dem Marsch zu Aufräumungsarbeiten in das zerstörte Heilbronn im Januar 1945 abgespielt hat: Als Begleitung hatten sie alle fünf bis sechs Meter Kapos, jeder mit einem Ochsenziemer ausgestattet. Sie waren stark, gut genährt und trugen eine Mütze. Ein Häftling lief aus dem Glied, um sich am Straßenrand liegende Apfelbutzen zu holen. Dafür schlug ihn ein tschechischer Kapo zusammen: mit dem Ochsenziemer auf den Kopf. Ich höre es heute noch krachen. Die Häftlinge schleppten ihn mit in die Stadt und, so berichteten die Leute, brachten ihn abends tot zurück. Bei diesem Zwischenfall schritt die an den Runen und den feldgrauen Uniformen erkennbare SS-Bewachung nicht ein. (Mündliche Mitteilung Kurt A. Zitiert nach Risel, KZ in Heilbronn, S. 43)

Erna Weidenbacher, Neckargartach:
Sie standen, sich einander festhaltend, auf dem Auto. Wie taten sie uns leid! So fingen wir an, von unserem Brot etwas zu sammeln, denn sicher hatten die Menschen noch mehr Hunger als wir. Und immer waren wir am Fenster, wenn das Auto kam. Meine Mutter und ich. Wir freuten uns, wenn es uns gelang, das Brot im richtigen Moment zwischen die Männer zu werfen. Wohl wussten wir, dass das verboten war, wir taten es immer wieder. [...] Bei einem Spaziergang kam ich am Gasthof „Zum Schiff“ vorbei, am früheren Ortsanfang Neckargartachs von der Peter-Bruckmann-Brücke aus gesehen, einem ehemaligen Tanzsaal, in dem nun Zementsäcke lagerten. Diese mussten von KZ-Männern auf ein Auto verladen werden. Am Eingang stand als Bewacher ein bewaffneter Soldat, ein junger Siebenbürger Wehrmachtsangehöriger, der abends öfter Gast in der „Rose“ war. Ein älterer Mann mit einem Sack auf dem Rücken musste ein paar Stufen hinab, die nach außen führten. Er schien am Ende seiner Kraft zu sein. Der Soldat gab dem geschundenen Menschen einen Fußtritt und sagte: „Na, also, es geht doch noch!“ Ich war entsetzt über so viel Unmenschlichkeit und Brutalität. Da vorbeizugehen fiel mir schwer. Nichts konnte ich tun. Ich konnte nur denken, sicher würde morgen wieder ein Mensch nicht mehr zum Einsatz können. Am selben Abend saß ich mit meinem Mann unten im Lokal. [...] An unserem Tisch saß der Soldat vom Nachmittag. Ich fragte ihn: „Was haben Sie heute nur getan, es war sicher ein Familienvater, den Sie da getreten haben. Ich habe es gesehen.“ Seine barsche Antwort darauf war: „Wenn Sie den Mund nicht halten, wissen Sie, was Ihnen blüht.“ (Erna Weidenbacher, in: Heimatfront, 1985, S. 230f.)

Aus dem Tagebuch des Neckarsulmers Gustav Scholl nach dem Bombenangriff auf Neckarsulm am 1. März 1945:
Die Hauptstraße musste vordringlich freigelegt werden. Vom KZ-Lager in Neckargartach ist eine Gruppe Häftlinge eingesetzt. Sie tragen dünne, blau-weiß der Länge nach gestreifte Anzüge und gehen in eng geschlossenen Kolonnen, die Arme eingehängt. Alle machen einen verhungerten, heruntergekommenen Eindruck. Ein guter Teil gehört offensichtlich der Intelligenz an und wurde sicher nicht aus kriminellen Gründen ins KZ gesteckt. Man wird, nachdem man jetzt erstmals mit ihnen in Berührung kommt, nachdenklich. Es kann da etwas nicht stimmen. Es sind noch voriges Jahr verschiedene Männer von hier ins KZ gekommen, die man als anständige, beruflich sehr tüchtige Leute kannte. Ihr einziges Vergehen bestand darin, dass sie zum Teil eine jüdische Mutter hatten. Was man jetzt hier als KZ-ler sieht, sind keine Schieber oder Verbrecher. Es ist ein Himmelfahrtskommando, das man ihnen zugewiesen hat. Sie graben die Blindgänger aus und entschärfen diese zehn Zentner schweren Bomben vom Aussehen einer kurzen, dicken Sauerstoffflasche. Wo ein solcher Blindgänger steckt, ist ein kreisrundes Loch im Boden. [...] Ein Kapo der KZ-ler, ein Mann aus Neckargartach, setzt sich in aller Gemütsruhe auf die Bombe und schlägt mit Hammer und Meißel den oberen und danach den unteren Zünder heraus. Würde das Ding losgehen, wäre ein Suchen nach den Überresten von ihm und seiner Nachbarschaft vergeblich. Es ist zwar verboten, mit den Leuten zu sprechen, aber auf die Frage, ob er sich nicht fürchte, sagt er: „Das mache ich schon seit drei Jahren!“ (Historische Blätter aus Neckarsulm. Heft 2, 1985, S. 12)

Aus der Familienchronik von Ludwig Gessinger über einen beobachteten Vorfall in Heilbronn Böckingen:
Im langen Durchlass wird man die Kolonne erstmals gewahr. Sie ruht aus, diese Kolonne, es sind lebendige Leichen, nur Haut und Knochen, die Augen in tiefliegenden Höhlen [...] Später durften diese Häftlinge wieder ein bisschen ausruhen unter der Zuschauertribüne des FV Union Böckingen. Während der Leiter des Transports abwesend ist auf kurze Zeit, wünscht sich die Wachmannschaft vom Clubhauswirt G. H. etwas Tee. Er sagt zu unter der Voraussetzung: nur wenn diese armen Menschen auch Tee bekommen. So geschah es dann auch. Als der Leiter dann zurückkam und sieht das, nimmt er ein Gewehr und schlägt sieben dieser armen Menschen mit dem Gewehrkolben tot. Man warf sie dann in einen Bombentrichter auf dem Fußballfeld, etwas südöstlich des nördlichen Strafraumes. (Familienchronik Ludwig Gessinger, Heilbronn Böckingen. Zitiert nach Vorländer, S. 127)

Der Todesmarsch nach Dachau:
Nach Augenzeugenberichten wurden die Häftlinge ab dem 1. April (Ostersonntag) 1945 zu Fuß nach Dachau getrieben, bevor wenige Tage später die Amerikaner in Neckargartach einmarschierten. Kraftfahrzeuge waren nicht mehr vorhanden. Die Häftlinge zogen die Feldküche und die Gepäckwagen der SS. Vor dem Abmarsch wurden noch Dokumente verbrannt und mindestens zwei Häftlinge erschossen. Zur gleichen Zeit wurden die Häftlinge aus dem Konzentrationslager Kochendorf evakuiert. Viele starben auf dem Marsch, einigen gelang die Flucht, nur wenige kamen in Dachau an. Von fünf Häftlingen ist bekannt, dass sie das Kriegsende überlebten.

Bericht der Augenzeugin Hildegard Baumbach aus Weinsberg:
Den Karfreitag 1945 werde ich nie im Leben vergessen. SS-Leute trieben einen jammervollen Zug menschlicher Wracks durch Weinsberg. Es waren, wie wir später hörten, Insassen des KZ-Nebenlagers Neckargartach bei Heilbronn. Kapos prügelten auf ihre eigenen Leidensgenossen ein, weil sie total erschöpft waren [...] Wer nicht mehr gehen konnte, wurde unterwegs erschossen. Nur ganz wenige haben damals Dachau erreicht und dort kamen sie noch in einen sehr schweren Fliegerangriff, so dass es kaum Überlebende gab. (Heinz Risel, KZ in Heilbronn, 1987, S. 80)

Bericht der Augenzeugin Elisabeth Kyber - von Boltho aus Löwenstein:
Am 31. März wurden die politischen Gefangenen und Zuchthäusler hier vorüber in ein anderes KZ-Lager geführt. Ein nie zu vergessender Eindruck! Zu Tausenden lagerten sie auf dem Stutz und in den Straßen. Abgehärmte, grauenerregende Gestalten, z. T. Opfer der Nazi-Regierung, darunter geistig hochstehende Männer! Viele konnten vor Schwäche und Erschöpfung nicht mehr weitergehen, wurden deshalb brutal behandelt, ich sah es selbst mit eigenen Augen und mein Herz krümmte sich! Mein Verstand fasste es kaum. Fünf Männer wurden hier auf dem Friedhof in eine Grube gelegt. Ich ging öfter hin, um an dieser Grube ein Gebet zu sprechen. (Ulrich Maier, Zerstörung und Wiederaufbau Löwensteins ... 1985, S. 147)

Die Frau des Löwensteiner Pfarrers Rücker beobachtete vom Pfarrhaus am Stutz das Geschehen:
Auf dem Stutz lagen KZ-Gefangene. Auf dem Durchmarsch Schläge, Schreien, Stöhnen. Am Morgen lagen drei Tote draußen umher. Ein anderer atmete noch. Aber rein in die Sargkiste, weg und ab. Wir sind wie gelähmt vor Entsetzen. (Ulrich Maier, Die letzten Wochen ... 1987, S. 265)

 

Arbeitsanregung AB 4

  • Welche Schlüsse über den Kenntnisstand der Zivilbevölkerung ziehst du aus den Quellen?

 

AB 5: Biographie eines Täters

Aus der Vernehmungsniederschrift von Johannes Gillberg für das Landeskriminalamt Baden-Württemberg:

Duisburg, den 22.September 1961 Auf Einbestellung erscheint in den Diensträumen der Kriminalpolizei in Duisburg der verheiratete Postkraftfahrer Johannes G., geb. am 2.10.1912 in D. [...] und gibt – mit dem Gegenstand der Vernehmung vertraut gemacht und zur Wahrheit ermahnt – Folgendes an:
I. Zur Person: Meine Jugendjahre verbrachte ich bei meinen Eltern in Duisburg. Ich hatte noch einen jüngeren Bruder, der jedoch gefallen ist. In Duisburg besuchte ich auch acht Jahre die Volksschule und kam Jahre 1927 in die Lehre als Schreiner. Nach vierjähriger Lehrzeit legte ich 1931 die Gesellenprüfung mit Erfolg ab. Wegen Arbeitslosigkeit ging ich 1932/33 in den Arbeitsdienst; 1934 meldete ich mich freiwillig zur Reichswehr nach Münster. Im Jahre 1937 schied ich freiwillig aus der Reichswehr aus und arbeitete anschließend bis 1939 bei der Reichspost als Kraftfahrer. Noch im gleichen Jahr wurde ich zur Artillerie in Düsseldorf einberufen. Ich machte dann den Frankreich-Feldzug mit und kam im Anschluss daran zum Einsatz in Russland. In Russland verblieb ich bis zum September 1943 mit Ausnahme einer einjährigen Genesungszeit aufgrund einer Verwundung, die ich in Spandau verbrachte. Nach dem Einsatz in Russland war ich einige Monate im Lazarett Pirnach und kam etwa Juli/August 1944 als Wachtmeister zum KL Natzweiler. Nach 14 Tagen wurde ich als Kommandoführer in das neu aufzubauende Außenlager in Neckargartach versetzt. In Neckargartach blieb ich dann als Kommandoführer bis zum 1.4.1945. Während meiner gesamten Tätigkeit in Neckargartach trug ich ausschließlich Wehrmachts-Unform. Wegen Frontnähe wurde das Lager aufgelöst und ich musste die Häftlinge mit einem Transport von etwa 300 Häftlingen in das KL Dachau verbringen. Nachdem ich die Häftlinge in Dachau abgeliefert hatte, meldete ich mich bei einer Artillerie-Einheit in Bad Wiessee, wo ich zum Einsatz und anschließend Anfang Mai 1945 in amerikanische Gefangenschaft kam. Bis 1947 war ich in amerikanischer Gefangenschaft und war zuletzt im Kriegsgefangenenlager des ehemaligen KL Dachau. Alsdann wurde ich den Franzosen übergeben, die mich über Reutlingen, Germersheim im Jahre 1949 nach Rastatt zum Kriegsverbrecher-Prozess, wo ich Angeklagter war, verbrachten. Von meinen ehemaligen Kameraden des Lagers Neckargartach war nur noch St[geschwärzt] mit mir angeklagt. In Rastatt wurde ich wegen Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt. Gegen dieses Urteil legte ich Revision ein, die am 20.1.50 verhandelt wurde. Die lebenslängliche Zuchthausstrafe wurde durch das Revisionsurteil in eine 15-jährige Zuchthausstrafe umgewandelt. Zur Verbüßung dieser Strafe kam ich anschließend in das Zuchthaus in Wittlich. In der Folgezeit habe ich mehrere Gnadengesuche eingereicht, auf Grund derer meine Strafe zunächst auf zwölf, dann auf zehn Jahre herabgesetzt wurde. 1955 (22. Februar) wurde ich schließlich „bedingt“ nach Hause entlassen. Bei meinem Prozess hatte ich den Rechtsanwalt Dr. Wilhelm K[geschwärzt] aus Spaichingen. Nach meiner Entlassung zog ich wieder zu meiner Familie nach Duisburg, wo ich heute noch wohnhaft und wieder bei der Post als Kraftfahrer beschäftigt bin. Auf Frage: Ich war weder Mitglied der NSDAP noch der allgemeinen SS. Wie schon zu Beginn meiner Vernehmung erwähnt, habe ich auch nie im Lager Neckargartach SS-Uniform getragen.
II. Zur Sache Während meiner Tätigkeit im Außenlager Neckargartach erinnere ich mich an einen einzigen Fall, bei dem ein Häftling erschossen wurde. Ich kann jedoch mit dem besten Willen nicht mehr angeben, wie der Vorgang im einzelnen war. Ich weiß daher nicht, ob der Häftling auf der Flucht erschossen wurde oder aus Willkür eines Angehörigen der Wachmannschaft. (Zentralstelle Ludwigsburg, Akte Neckargartach S. 51f. Abgedruckt in Risel, KZ in Heilbronn, S. 93 - 94)

Augenzeugen berichten, dass er für mehrere Erschießungen verantwortlich gewesen sei bzw. sie sogar selbst vorgenommen habe. (François Goldschmitt, Elsässer und Lothringer in Dachau. Nr. 2: Im Zugangsblock, Metz 1945, S. 74)

 

Arbeitsanregung AB 5

  • Vergleicht die Aussage des Lagerführers vor der Kriminalpolizei Duisburg mit den Quellen.
  • Sprecht über die Biographie des Lagerführers, insbesondere über sein Leben nach 1945.