Die Heilbronner Waldheide als Pershing-Standort

Die Heilbronner Waldheide, schon im ausgehenden 19. Jahrhundert als Truppenübungsplatz genutzt, wurde von der amerikanischen Besatzungsmacht nach 1945 als Militärstandort übernommen. Dort sind die mit atomaren Sprengköpfen bestückten Raketen in Folge des so genannten Nato-Doppelbeschlusses aufgestellt worden.

Anlass dazu gaben die USA mit der Behauptung, wonach die große Gefahr bestünde, dass die Sowjetunion das westliche Europa erobern würde. Um sich zu schützen und um die Strategie der „Flexible Response“ aufrechterhalten zu können, müsse man aufrüsten. Am 12. Dezember 1979 beschloss die NATO daher die atomaren Mittelstreckenwaffen angesichts der angeblichen sowjetischen Aufrüstung zu modernisieren. Der deutsche Bundestag billigte am 22.11.1983 den NATO-Doppelbeschluss und genehmigte die Stationierung von Pershings II und Cruise-missiles-Raketen in Heilbronn (Waldheide), Schwäbisch Gmünd (Mutlangen) und Neu-Ulm. Nur wenige Tage später, nämlich am 25. November 1983, trafen in Mutlangen die ersten Atomraketen ein.

Die Stationierung der Raketen war eine Geheimsache. Die Einwohner der betroffenen Städte wurden nicht informiert. Zwar war die Waldheide als Stationierungsort bekannt gegeben worden, aber den Zeitpunkt, ab dem die bedrohlichen Waffensysteme installiert worden waren, teilte man nicht mit. Als die „Heilbronner Stimme“ ein Foto veröffentlichte, das ihr zugespielt worden war und auf dem der Kopf einer auf dem Waldheide-Gelände stationierten Pershing II zu erkennen war, wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet. Immerhin wusste man ab diesem Zeitpunkt, dass die Raketen da waren.

Es begann die Auseinandersetzung der Rüstungsbefürworter mit der Friedensbewegung, eine Auseinandersetzung, die jahrelang geführt und zu einer „Zerreißprobe“ wurde. Zu dieser „Zerreißprobe Frieden: Baden-Württemberg und der NATO-Doppelbeschluss“ wurde eine Sonderausstellung zusammengestellt, die vom 23. April bis zum 3. Oktober 2004 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg zu sehen war. (Zerreißprobe Frieden. Baden-Württemberg und der NATO-Doppelbeschluss. Katalog zur Sonderausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart 2004).

Die Geheimhaltung von Seiten des US-Militärs ging so weit, dass selbst der Oberbürgermeister der Stadt Heilbronn keinen Zugang zu dem Raketenstandort Waldheide hatte. So konnte er, unmittelbar nach dem Unfall befragt, keine Auskunft geben. Jahrelang war auch die Besprechung des Themas „Raketenstandort Waldheide“ im Heilbronner Gemeinderat untersagt. Als im Dezember 1983 die in der Berliner Akademie der Künste organisierten Schriftsteller unter der Leitung von Günter Grass in Heilbronn tagten, wurden sie vom Oberbürgermeister zu einem Empfang ins Rathaus eingeladen. In seiner Ansprache gab er den versammelten Autoren die Empfehlung, sie sollten doch die Atomraketen auf der Waldheide vergessen und sich lieber „einen Trollinger hinter die Binde gießen“. Robert Jungk verließ daraufhin empört den Ratssaal. Die Tagungsteilnehmer verabschiedeten später einen Aufruf zur Wehrdienstverweigerung, der viel Aufsehen erregte. Im Dezember 1985 fand im Heilbronner AWO-Waldheim ein zweites Schriftstellertreffen statt. Die Tagungsstätte war bewusst gewählt worden, denn sie lag in unmittelbarer Nähe zum Raketenstützpunkt. Dieser war nach dem Unfall mit Zäunen, Gittern, Sichtblenden, Sicherheitsstreifen, Wachtürmen und Stacheldraht hermetisch abgesichert.

Nach dem Raketenunfall organisieren sich viele Menschen in Friedensgruppen, einige fassen den Entschluss, die Zufahrt zu dem US-Militärstandort zu blockieren. Die Polizistenwitwe Martha Kuder, damals 64 Jahre alt, beteiligte sich nach dem Raketenunfall an diesen Blockaden. Sie wird wie viele andere auch vor Gericht gestellt und zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt. Sie weigert sich, den Betrag zu überweisen und wird zehn Tage im Gefängnis Schwäbisch Gmünd inhaftiert. Sie könne kein Gesetz anerkennen, hatte sie dem Richter erklärt, das den reibungslosen Ablauf einer verbrecherischen Todesmaschinerie schütze.

 

Der Raketenunfall hatte nicht nur Martha Kuder, sondern die gesamte Bevölkerung wachgerüttelt. Schlagartig war klar geworden, wie massiv die eigene Gefährdung durch die Atomraketen war, schließlich hätte der Unfall auch eine Plutonium-Verstrahlung auslösen können. Am 24.1.1985 fasste der Heilbronner Gemeinderat daher einstimmig den Beschluss, wonach der Raketenstandort unverzüglich beseitigt werden müsse. Am 2.2.1985 demonstrierten 10000 Menschen trotz strömenden Regens mit einem Schweigemarsch von Heilbronn zur Waldheide gegen die Raketen, und ab dem 8.2.1985 begannen BürgerInnen mit einer unbefristeten Blockade des Standorts.

Um die Menschen zu beruhigen, kam am 25.4.1985 der damalige Verteidigungsminister Manfred Wörner nach Heilbronn und sagte vor geladenen Politikern: "Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Bevölkerung." Martha Kuder ging für ihren Friedenseinsatz für zehn Tage ins Gefängnis. "Ich kann auch deswegen konsequent sein, weil ich keinen Job zu verlieren habe", stellte sie nüchtern fest. Viele (junge) Menschen setzten damals ihre berufliche Karriere aufs Spiel.

Nach dem Heilbronner Pershing-Unfall setzten sich zahlreiche Friedensgruppen aus unterschiedlichen Bevölkerungskreisen vehement für den Abzug der Raketen ein. Die Blockierer wollten den gefährlichen Transport der Atomwaffen unterbinden. Denn: "Von den vier Batterien eines Pershing-Bataillons sollten im Ernstfall immer drei die vorgegebenen Ziele im Visier haben und schussbereit sein, während die vierte ihren Standort wechselte. (...) Die ständigen Übungen mit den Raketen und die dauernden Transporte brachten besondere Probleme mit sich, nicht zuletzt, weil die verschiedenen Pershing-Waffensysteme auch ohne die Sprengköpfe eine ernst zu nehmende Gefahrenquelle darstellten."(Katalog, S. 15)

Den Personen, die sich an Blockaden beteiligt hatten, wurden von der Polizei Kostenbescheide zugestellt für "die Anwendung unmittelbaren Zwangs". Da viele die Zahlung ablehnten mit der Begründung, "dass Sitzblockaden gegen Angriffswaffen im Rahmen des Demonstrations- und Widerstandsrechts nicht gesetzeswidrig" seien, kam es zu Gerichtsverhandlungen.

Obwohl die Richter unter Druck gesetzt wurden, kam es zu zahlreichen Freisprüchen. Am 23.2.1985 hatte die "Heilbronner Stimme" einen "Offenen Brief der Heilbronner Juristen für den Frieden" publiziert, in dem sechs Richter und vierzehn Rechtsanwälte postulierten, dass eine Blockade im Sinne des Strafgesetzbuchs „nicht verwerflich“ sei, da die Blockierer "im Interesse der ganzen Heilbronner Bevölkerung handelten und sich hierin durch den Heilbronner Gemeinderatsbeschluss bestätigt sehen würden."

 

Auch viele Pfarrer folgten ihrem Gewissen und beteiligten sich an Blockaden. Auszug aus einer Verteidigungsrede eines Pfarrers, gehalten vor dem Amtsgericht Schwäbisch Gmünd am 14.11.1988 im Zusammenhang mit der Anklage wegen gemeinschaftlicher Nötigung: "Ich habe also ein Stück weit Widerstand geleistet gegen eine Maßnahme unseres Staates, die sich formal rechtlich als legal bezeichnen läßt (...), die aber, wie Umfragen in der Bevölkerung von damals zeigen, im Widerspruch zur Meinung von 70 - 80% der Menschen in diesem Lande stand. Insofern fehlte dieser Entscheidung von Anfang an die Legitimität, die moralische Berechtigung, sie war nicht vom breiten Konsens der Menschen dieses Landes getragen, wie man das in einer Frage, in der es um Leben und Tod geht, hätte erwarten dürfen."

Nach dem Abzug der US-Truppen Anfang der neunziger Jahre waren auf der Waldheide eine Zeitlang Asylanten untergebracht, danach wurde das Gelände renaturiert. Am 21.7.1996 fand die Eröffnungsfeier statt. Die "Heilbronner Stimme" berichtete über das Waldheidefest unter der Überschrift: "Mauern in den Köpfen wurden nicht abgebaut". Eine Gedenktafel erinnert heute an den ehemaligen Raketenstandort. Am Unfallort ist außerdem eine Gedenkstätte errichtet.